Harro von Senger, Dr.jur., Dr.phil., Prof.em. Sinologie

Am 06. März 2014 beging Prof. Dr. jur. Dr. phil. Harro von Senger, Bürger von Genf, seinen 70. Geburtstag.

Harro von Senger besuchte die renommierte klassische Mittelschule im Benediktiner Klostergym-nasium Einsiedeln (Schweiz). Nach dem Jurastudium wurde er 1969 mit einer Dissertation über das Thema Kaufverträge im traditionellen China (Zürich 1970) zum Dr. jur. an der Universität Zürich promoviert. Danach studierte er 1971-1977 Chinesisch und Japanisch sowie ostasiatische Rechtsgeschichte in Taibei, Tokyo und Peking. 1980 konnte er sich  aufgrund seiner Erfahrungen in China mit einer damals sehr innovativen Arbeit zu Partei, Ideologie und Gesetz in der Volksrepublik China (Frankfurt 1982) an der Universität Zürich habilitieren. Ein Jahr später wurde er an der Albert-Ludwigs-Universität mit einer Dissertation über Chinesische Bodeninstitutionen im Taiho-Ver-waltungskodex (Wiesbaden 1983) zum Dr. phil. promoviert. Noch im selben Jahr wurde er Privatdozent für Sinologie an der Universität Zürich. 1989 wurde Harro von Senger zum Professor für Sinologie (Modernes China) an die Universität Freiburg i.Br. berufen.

Nach der Besetzung einer zweiten Sinologie-Professur, die nach der Abschaffung der Japanologie an der Universität Freiburg neben der Professur von Peter Greiner (1940-2011) neu eingerichtet wurde, haben sich in den darauffolgenden zwei Jahrzehnten einige Forschungsschwerpunkte herausgebildet, welche die Freiburger Sinologie von den anderen deutschen Universitäten abheben. Nachdem Peter Greiner zum 30. Sept. 2005 in den Ruhestand getreten war, vertrat Harro von Senger bis zu seiner Pensionierung zum 31. März 2009 das schnell wachsende Fach Sinologie allein, das damals weder über einen Assistenten noch eine Sekretärin oder einen Bibliothekar verfügte.

Ein Schwerpunkt der sinologischen Arbeiten von Harro von Senger ist die Erschließung eines neuen Forschungsgebietes, die traditionellen militärtheoretischen Schriften Chinas und deren Fortwirkung im modernen chinesischen strategisch-taktischen Denken. Dabei stützt er sich stets auf die historischen Textquellen, vor allem auf den „Kriegskanon Meister Suns“ (Sun Zi Bingfa), der neben Konfuzius, Laozi u.a. zu den ältesten literarischen Quellen aus China gehört. Die dort gesammelten Kriegslisten bilden den Ausgangspunkt für die philologische und kulturhistorische Forschung von Harro von Senger, der ein Dutzend Bücher über die chinesische Kunst der List veröffentlicht oder herausgegeben hat, z.B. seine Pionierarbeit Strategeme. Lebens- und Überlebenslisten aus drei Jahrtausenden. Die berühmten 36 Strageme der Chinesen (Bern 1988). In einem Brief vom 10. Mai 1989 schrieb der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl an den Freiburger Sinologen: „Ich habe mir Ihr eindrucksvolles Buch mit Interesse, gelegentlich auch mit Schmunzeln angeschaut – und dabei natürlich immer wieder auch an eigene Erfahrungen gedacht. Es leistet nicht nur einen wertvollen Beitrag zum tieferen Verständnis Chinas in Geschichte und Gegenwart; vielmehr benennen die von Ihnen so anschaulich illustrierten Strategeme auch Verhaltensweisen von allgemein-menschlicher Bedeutung“.

Es ist Harro von Senger ein wichtiges Anliegen, über diese bisher im Abendland nur ungenügend bekannte Seite chinesischer Mentalität aufzuklären. Diese Listen hat er nicht nur historisch und philologisch erforscht, sondern auch die Möglichkeit ihrer praktischen Anwendung in seinem Buch Supraplanung. Unerkannte Denkhorizonte aus dem Reich der Mitte (München 2008) in die Zukunft projiziert. Das zeigte eine glückliche Hand darin, historisch-sinologische Forschungen für die Gegenwart nutzbar zu machen. 2001-2006 veranstaltete Harro von Senger mit den Wirtschaftswissenschaftlern Bernd Schauenberg, Klaus Kammerer u.a., in sechs aufeinander folgenden Sommersemestern das interdisziplinäre Hauptseminar Die List in der Wirtschaft (I bis VI). Zeitgleich führte er 2003-2005 mit den o.g. Kollegen das vom Rektorat finanziell unterstützte Forschungsprojekt Strategie und Strategeme. Die chinesische Listenlehre im interdisziplinären Dialog durch, das 2006 mit einem internationalen Symposium abgeschlossen wurde, aus dem daraufhin der Sammelband Regel und Abweichung: Strategie und Strategeme. Chinesische Listenlehre im interdisziplinären Dialog (Berlin 2008) hervorging.

Harro von Senger ist nicht nur als Sinologe tätig, sondern hat auch zum chinesischen und japani-schen Recht geforscht. Hervorzuheben sind Bücher wie Einführung in das chinesische Recht (München 1994) oder Das internationale Privat- und Zivilverfahrensrecht der Volksrepublik China (mit G. Xu, Zürich 1994). In zahlreichen Artikeln behandelt er ein ungewöhnlich breitgefächertes Spektrum von rechtswissenschaftlichen Themen Chinas: Chinesisches Recht allgemein und Rechtsvergleichung, Rechtsgeschichte bzw. Geschichte des Rechtsdenkens in China, Verfassung und Verwaltungsrecht, Straf- und Strafprozessrecht, Wirtschafts- und Außenwirtschaftsrecht sowie Recht des geistigen Eigentums, Rechtserziehung in China und Rechtssystem in Hongkong, Völkerrecht und Internationales Privatrecht. Dabei gilt sein besonderes Interesse der Entwicklung der Menschen-rechte in China. 1982-1989 wirkte Harro von Senger zunächst als wissenschaftlicher Mitarbeiter für chinesisches und japanisches Recht am Schweizerischen Institut für Rechtsvergleichung (Lausanne). Seit 1989 bis heute ist er dort als Experte für chinesisches Recht tätig und widmet einen großen Teil seiner Zeit der Betreuung von mehr als 40 chinesischen Nachwuchsjuristen, aus denen eine Reihe von führenden Juristen, Politikern und Akademikern Chinas hervorging.

Im akademischen Jahr 1994-1995 war Harro von Senger Dekan der Philosophischen Fakultät II und Sprecher des gemeinsamen Ausschusses der vier Philosophischen Fakultäten. 2006-2007 war er geschäftsführender Direktor des Orientalischen Seminars. Mit der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität pflegte er enge Kontakte. Seine Lehrveranstaltungen über z.B. Die Volksrepublik China und die Menschenrechte wurden gleichzeitig Rechts- und Sinologiestudierenden angeboten. Zu mehreren Symposien, die von Uwe Blaurock (Rechtswissenschaft) und dem Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht (Freiburg) organisiert wurden, trug er mit Vorträgen bei. Außerdem brachte Harro von Senger die Freiburger Sinologie in den deutsch-chinesischen Rechtsstaatsdialog ein. In der Universität bestand eine frucht¬bare Zusammenarbeit mit vielen anderen Fächern wie Geschichte, Soziologie, Philosophie, Politikwissenschaft sowie mit dem Studium Generale und dem Graduiertenkolleg „Identitäten und Alteritäten“.

Harro von Senger ist Mitherausgeber der Buchreihe Freiburger Fernöstliche Forschungen, in der seit 1983 zehn Bände erschienen sind. Außerdem wirkt er bei verschiedenen Reihen und Zeitschriften mit wie China Information (Leiden), Neue China-Studien (Nomos-Verlag) und Kulturelle Ökonomie (LIT-Verlag). Daneben hat er sich mit Erfolg darum bemüht, die schwierige Aufgabe der elektronischen Erfassung der Bestände der von ihm und Peter Greiner gegründeten sinologischen Bibliothek (ca. 10.000 Bände) und der Online-Katalogisierung der chinesischsprachigen Bücher für die Universitätsbibliothek  zu bewältigen.

Mehrere Jahre lang stellte sich Harro von Senger als Gutachter für das DAAD-Programm Sprache und Praxis in China zur Verfügung. Seine Fürsorge für die Studierenden drückte sich besonders darin aus, dass es ihm ein wichtiges Anliegen war, dafür zu sorgen, dass die Studierenden Stipendien und Studienplätze an Universitäten in China und Japan erhielten. Darüber hinaus unterstützte er die Umsetzung von zahlreichen Ferienkursen in China, von denen Hunderte von Studierenden profitierten. Dank dieser Unterstützung belegten die Freiburger Sinologie-Studierenden beim internationalen Wettbewerb Chinese Bridge 2005-2008 viermal hintereinander den ersten Platz für Deutschland – eine bundesweit einmalige Leistung. Harro von Senger konzentriert sich nicht nur auf seine eigene Forschungsarbeit, sondern unterstützt eine Reihe von anderen Projekten und Lehrveranstaltungen, die für die sinologische Ausbildung und Forschung relevant sind, wie z.B. Gender Studies, Tibetologie, Buddhismuskunde und Minderheitenforschung. Nicht zuletzt dank dieser großen Offenheit gegenüber vielfältigen Fragestellungen stieg 1999-2009 die Anzahl der Sinologiestudierenden an der Universität Freiburg außergewöhnlich schnell an und nahm in Baden-Württemberg sowie bundesweit eine Spitzenstellung ein. Zum 65. Geburtstag von Harro von Senger erschien 2009 eine Festschrift mit dem Titel Den Jadestein erlangen (Frankfurt), der sich auf eines der o.g. 36 Strategeme bezieht.

Auch nach dem Eintritt in den Ruhestand am 01. April 2009 bleibt Harro von Senger der Universität Freiburg durch die Betreuung zahlreicher Magisterarbeiten und Dissertationen bis heute verbunden. Er trägt mit einer weitgefächerten Vortragstätigkeit zur Verbreitung der Kenntnisse über China bei. In einer renommierten Zeitung wie der Neuen Zürcher Zeitung hat er Hunderte von Artikeln über Kultur und Politik Chinas publiziert. In seinem Ruhestand widmet er sich u.a. der Aufarbeitung der Gründungsgeschichte der Freiburger Sinologie von 1980 bis 2010, die in der Gedenkschrift Der Weise geht leise (Wiesbaden 2014) für seinen 2011 verstorbenen Kollegen Peter Greiner Niederschlag findet. Möge ihm seine Schaffenskraft, unterstützt von seiner Gattin Marianne, Fachreferentin der UB Neuchâtel i.R., noch lange erhalten bleiben: jiankang changshou!


(von Haiyan Hu-von Hinüber in: Freiburger Universitätsblätter, Heft 205/3, 2014, S. 106-108)